Ein selbstbestimmtes Leben im hohen Alter? Wir haben diese und weitere Fragen mit Sabina Misoch angeschaut. Die Professorin leitet das Institut für Altersforschung (IAF) in St. Gallen an der Ostschweizer Fachhochschule (OST) und gilt als Koryphäe in der Forschung über das Alter(n).

Wir werden immer älter. Experten gehen davon aus, dass gegebenenfalls jedes zweite Kind der Generation Z, also der Kinder, die um das Jahr 2000 geboren sind, ihren 100. Geburtstag feiern werden. Wie wird sich das auf unsere Gesellschaft auswirken – wie werden wir künftig alt? Und welche technischen Innovationen werden uns unterstützen, um länger ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Diese und weitere Fragen beantwortet uns die Altersforscherin Dr. Prof. Sabina Misoch. 

Frau Dr. Prof. Misoch, was ist für Sie alt?

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Soziologisch beginnt das Alter mit dem Übergang vom Erwerbsleben in die Pension. Dieser erfolgt in der Regel mit dem 64. oder dem 65. Lebensjahr. Wissenschaftlich gesehen wird die Lebensphase «Alter» hingegen in vier Phasen untergliedert: Die erste Phase beginnt bereits mit 50+, denn dann erfolgt die erste Auseinandersetzung mit dem Thema Alter. Die zweite Phase startet dann mit der Pensionierung. Meist ist die frisch pensionierte Person gesund und vital und kann eigenständig und aktiv die neue Lebensphase «Pensionierung» gestalten. In der darauffolgenden dritten Phase, dem sogenannten «fragilen Alter», wird bereits leichte Unterstützung benötigt. Die letzte Phase, die «hohe Fragilität» ist die letzte Phase. Hier geht es ohne Unterstützung nicht mehr. Falls die Pflege zuhause nicht möglich ist, lebt die Seniorin oder der Senior in einer Institution, die die notwendige Unterstützung liefert. Diese letzte Phase ist ausserdem diejenige, in der man sich langsam auf das Lebensende vorbereitet.  

Nebst diesen definierten Phasen spielt aber vor allem das eigene Empfinden eine grosse Rolle. Es ist sehr subjektiv, wie alt man sich fühlt. Auch der persönliche Gesundheitszustand beeinflusst diese Wahrnehmung. Eine 65-jährige Person, die frisch pensioniert ist, kann sich z. B. alt fühlen, weil sie nicht mehr so fit ist, wie sie sich das zum Renteneintritt erhofft hatte. Gleichzeitig kann sich eine 94-jährige Person überhaupt nicht alt fühlen, weil sie noch quietschfidel und bei bester Gesundheit ist. Das Gefühl ist hoch individuell und entkoppelt sich, je älter man wird, immer mehr vom biografischen bzw. vom kalendarischen Alter.

Ist Langlebigkeit für Sie ein erstrebenswertes Ziel?

Selbstverständlich ist es eine erfreulich gute Entwicklung, dass Menschen eine stark verlängerte Lebenserwartung haben. Dies gibt uns viel mehr Perspektiven, zumal sich in den Daten zeigt, dass der Hinzugewinn an Jahren vor allem ein Hinzugewinn an gesunden Lebensjahren bedeutet. Dies ist wichtig, da die Wertschätzung einer verlängerten Lebenserwartung stark von der Lebensqualität abhängen kann. Eine Person, die an vielen Krankheiten leidet, wird eventuell nicht so stark den Wunsch hegen, ein langes Leben zu führen wie ein Mensch, der rundum fit und gesund ist. Doch dies ist eine sehr subjektive Annahme und kann nicht verallgemeinert werden. Ich denke, es ist wichtig, dass das Leben Qualität hat (wobei diese Definition höchst subjektiv ist), Freude bereitet und im besten Falle uns im Inneren mit Sinn erfüllt.  

Für mich persönlich ist Langlebigkeit und auch das «Altwerden» etwas sehr Positives. Ich finde es aber wichtig, dass man sich dessen bewusst ist, dass das Leben begrenzt und endlich ist und dass sich bestimmte Erlebnisse nur in bestimmten Lebensphasen ereignen und dass sich Erfahrungen und Erlebnisse nicht unendlich oft wiederholen lassen. Wie man so schön sagt: Jedes Ding hat seine Zeit, das macht damit auch jede Lebensphase wieder aufs Neue spannend und herausfordernd!  

Geht es weiter mit dem Trend, dass Menschen immer älter werden?

Die Lebenserwartung wird weiterhin zunehmen. Experten gehen davon aus, dass die Höchstgrenze bei 120 Jahren liegt, hiervon sind wir aktuell trotz unserer hohen Lebenserwartung noch weit entfernt. In Zukunft wird sich dies aber ändern. Berechnungen zufolge werden Kinder, die nach 2000 geboren wurden, die Generation Z, mit einer 25%- bis zu 50%igen Wahrscheinlichkeit ihren 100. Geburtstag erleben. Dies wird die aktuellen Zahlen stark verändern. Aktuell leben 1726 Personen in der Schweiz (Zahlen von 2020), die 100 Jahre oder älter sind, die Tendenz ist dabei stark steigend. 

Die aktuelle Altersrekordlerin ist die Französin Jeanne Louise Calment (* Februar 1875, † 4. August 1997). Sie erreichte das höchste jemals offiziell aufgezeichnete Alter und wurde 122 Jahre alt. Jeanne Calment hatte lange einen sehr guten Gesundheitszustand. Sie wurde immer wieder nach ihrem Geheimnis des langen Lebens befragt. Sie meinte Olivenöl, Wein, Zigaretten und Schokolade hätten ihr Leben verlängert. Rauchen wird nun nicht ernsthaft als lebensverlängernd angesehen, aber was den Kern ihrer Aussage ausmacht: Man sollte das Leben geniessen! 

Es gibt Studien, die belegen, dass eine positive Lebenseinstellung damit korreliert, wie lange wir leben und wie zufrieden wir alt werden.

Wie altern wir in Zukunft?

Einerseits gehe ich davon aus, dass wir immer mehr Menschen haben werden, die in der Lebensphase «Alter» leben. Wenn die Hochrechnungen sich bewahrheiten, dann haben wir im Jahr 2060 eine Bevölkerungsstruktur, in der ca. ein Drittel der Menschen bei uns 65 Jahre oder älter sein wird. Das wird nicht nur zu einem gesellschaftlichen Wandel führen, sondern auch zu einem Wandel der bisherigen Altersbilder. 

Des Weiteren gehe ich davon aus, dass der Bereich der technologischen Unterstützung stark zunehmen wird. Intelligente, digitale Systeme werden uns das Leben komfortabler machen und werden zunehmend unverzichtbar für unseren Lebensalltag – auch im Alter. Wenn wir fragiler und mobilitätseingeschränkter sind und trotzdem zuhause leben wollen, könnten z. B. Smart Home Solutions ausschlaggebend sein, um das Leben daheim weiterhin zu ermöglichen und zu erleichtern. 

Zudem glaube ich, dass sich robotische Lösungen zunehmend etablieren werden. In 10 bis 20 Jahren werden wir zuhause intelligente Roboter haben, die uns in den Dingen unterstützen, die wir entweder altersbedingt nicht mehr so gut bewältigen können oder die wir aus Gründen des Komforts nicht selbst übernehmen wollen. 

Sie forschen hinsichtlich der Einsetzbarkeit von neuen Technologien in der Altersbetreuung, vor allem inspiriert von Trends aus Japan. Erzählen Sie uns mehr dazu.

Wir beforschen in unserem Institut IAF einen breiten Fächer an Themen, der mit Alter und Altern zu tun hat. Hierzu zählen Themenfelder wie Identitätsarbeit, Bewegungsförderung oder auch Forschung zum Wertewandel, der sich im Laufe des Lebens vollzieht. 

Bei der Entwicklung von Technologien ist es unserem Institut wichtig, diese partizipativ, d. h. mitwirkend zu prägen. Bei allen Forschungsprojekten ist es unser Ziel, diese gemeinsam mit den Menschen zu entwickeln, die sie später benutzen. Für uns ist es am wichtigsten, dass die künftigen «End-User» die neuen Entwicklungen mitgestalten, akzeptieren und dass Innovationen nicht an den Nutzergruppen vorbei entwickelt werden. 

Bei Technologien, welche zuhause eingesetzt werden sollen, arbeiten wir von Anfang an mit Senioren und Seniorinnen und ihren Angehörigen zusammen. Bei Technologien für Institutionen wird zudem eng mit dem Pflegepersonal kooperiert. Derzeit forschen wir intensiv am Themenbereich Robotik: Wie können Roboter sinnvoll eingesetzt werden? Welche Funktionen wünschen sich Senioren und Seniorinnen? Welche Funktionen wollen sie nicht? Wie soll der Roboter aussehen? Was für eine Stimme soll er haben? 

Hier hat sich herausgestellt, dass vor allem Funktionen gewünscht sind, die eher als körperfern zu beschreiben sind. Gewünscht werden hierbei vor allem Service-Funktionen. Es wird als positiv wahrgenommen, wenn ein Roboter z. B. ein Glas Wasser bringt oder andere Bring- und Holdienste erledigt. Körpernahe Funktionen werden eher als negativ oder auch angstmachend empfunden. Viele möchten z. B. nicht, dass ein Roboter sie wäscht. Diese Erkenntnisse sind wichtige Hinweise, um der Industrie zu signalisieren, in welchem Bereich Robotiklösungen Sinn machen und in welchem nicht. Wir möchten nur technische Innovationen unterstützen, wenn diese sozial gewollt und gesellschaftlich akzeptiert sind.

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Die Gestaltung des Roboters ist den Seniorinnen und Senioren sehr wichtig. Der Roboter soll nicht zu maschinenartig aussehen, sondern ein Gegenüber simulieren; also einen Kopf und Augen haben.

Inwiefern können technische Fortschritte das Leben von älteren Menschen erleichtern?

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Leben und den Alltag im Alter zu erleichtern. Für das eigenständige Leben zuhause beginnt dies bei einfachen Technologien, z. B. mit Sensorensystemen, die Bewegung wahrnehmen (automatische Lichtleisten) und auch bei dessen Ausblieben alarmieren: so dass ein Alarm gesendet wird, sobald der Kühlschrank einen Tag lang nicht geöffnet wurde. 

Es können aber auch intelligente Robotiksysteme sein: z. B. ein auf künstlicher Intelligenz basierter Roboter, der einen Senior oder eine Seniorin durch den Tag begleitet. Dies kann in Zukunft vor allem für Menschen mit beginnender Demenz eine interessante Lösung sein, um einen möglichst langen Verbleib – bei hoher Sicherheit – in der gewohnten Wohnumgebung zu ermöglichen. Aber auch Systeme, die die Menschen mit Demenz an alle Dinge erinnern, wie Medikamenteneinnahme usw., und die bei der Tagesstruktur unterstützen, sind vorstellbar, quasi eine Art digitaler Alltagscoach. 

Ein weiterer Ansatz wäre ein Service-Roboter, der Seniorinnen und Senioren das Leben zuhause erleichtert, wenn sie mobilitätseingeschränkt sind. Dieser holt und bringt Dinge, die man im Haushalt benötigt, oder öffnet die Türe – es sind unendlich viele Möglichkeiten vorstellbar.

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Möglich sind auch Roboter, die Kommunikationsfunktionen übernehmen: Sie sagen „Gute Nacht“ und „Guten Morgen“, begleiten uns durch den Tag und fungieren als soziales Gegenüber für uns.

In Japan gibt es bereits Kommunikationsroboter für junge Menschen. Wenn sie nach Hause kommen, begrüsst der Roboter sie und fragt, wie der Arbeitstag war. Er gibt Rezeptvorschläge fürs Abendessen und liest die Topfilme im TV-Programm vor. Der Roboter übernimmt eine kommunikative Funktion, die sonst ein Mensch übernehmen würde. Auch solche Arten von «menschlichen» Robotern könnten für Schweizer Seniorinnen und Senioren in der Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen. Hier gilt es aber sorgfältig im Vorfeld zu prüfen, ob diese Funktionen in unserer Kultur wirklich gewünscht sind und wie diese genau gestaltet sein müssten. 

Wie realistisch ist es, dass technische Neuheiten von Senioren angenommen werden?

Die Akzeptanz von Innovationen hängt nicht nur von deren Funktionalitäten, sondern auch stark vom Alter der Zielgruppe ab. Heute Hochaltrige sind analog gross geworden und können mit neuen Technologien weniger anfangen als z. B. die Babyboomer. Interessanterweise sind sie aber dennoch offen für Innovationen, wenn sie deren Nutzen klar erkennen können und diese ihnen z. B. ermöglichen, länger eigenständig zuhause zu leben. Viele springen über den eigenen Schatten, auch wenn sie sonst nicht technikaffin sind. 

Just for fun nutzen Seniorinnen und Senioren keine Technologie. Es muss klar ein Nutzen erkennbar sein. Dann setzen auch technikaverse Jahrgänge Technologien ein.

Künftig wird die Akzeptanzfrage einfacher sein, weil die jüngeren Generationen (Babyboomer) mit der Digitalisierung bereits in Berührung gekommen sind. Wer im Laufe des Lebens einen Touchscreen bedienen musste, tut sich nicht schwer daran, einen ähnlichen Touchscreen auf einem Roboter-gestützten System zu nutzen. 

Was ist für Sie persönlich ein selbstbestimmtes Leben?

Ein selbstbestimmtes Leben ist für mich das, was der Begriff impliziert: Dass ich Dinge selbst aus eigenem Willen bestimmen kann und dabei handlungsmächtig bin. Im eigenen Wohnumfeld fühle ich mich dabei am meisten selbstbestimmt. Dort habe ich die grössten Freiheitsgrade an der Gestaltung meines eigenen Alltags. 

Im Alter bedeutet ein selbstbestimmtes Leben für mich, die Chance zu haben, möglichst lange aktiv und fit zu sein. Selbstbestimmung ist für mich stark mit einer freien Entscheidungsfähigkeit verbunden und damit auch mit einer Handlungsfähigkeit im Sinne von Active Ageing. Ich möchte mein Leben so lange wie möglich selbstständig führen und dabei, wann immer möglich, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten.

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Prof. Dr. Sabina Misoch

Sabina Misoch ist Professorin und Leiterin des Instituts für Altersforschung (IAF) in St. Gallen. Dort leitet sie unter anderem das aktuell grösste nationale Altersforschungsprojekt zum Thema Altern in der Gesellschaft (AGE-INT). Frau Misoch absolvierte ein Studium der Literaturwissenschaft, der Psychologie, der Philosophie und der Soziologie und promovierte danach in Soziologie an den Universitäten Karlsruhe und TU Berlin. Seit ihrer Promotion 2004 hatte sie verschiedene Positionen im Bereich Forschung und Lehre im In- und Ausland inne. Seit 2015 leitet Misoch das Institut für Altersforschung (IAF) an der Ostschweizer Fachhochschule.

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